P R E S S E M I T T E I L U N G
Jedes Jahr werden in der Europäischen Union Tausende von Kindern ohne ihre Einwilligung an ihren Genitalien zwangsoperiert. Die meisten tragen massive psychische und physische Schäden davon, unter denen sie ein Leben lang leiden.
Diese Operationen verfolgen keinen medizinischen Zweck, sondern dienen ausschliesslich dazu, ihre uneindeutigen Geschlechtsmerkmale möglichst rasch unwiderruflich zu vereinheitlichen. Trotzdem weigern sich die Ärzte, diese Eingriffe aufzuschieben, bis die Kinder alt genug sind zum Mitentscheiden. Zum ersten Mal wird nun in Europa ein Arzt wegen Körperverletzung vor Gericht gestellt.
Ärzte sind nervös
Bisher weigerte sich die Ärzteschaft standhaft gegen jegliches Umdenken. Seit sich Betroffene in Selbsthilfegruppen organisieren und diese menschenrechtswidrigen Praktiken anprangern, geraten sie jedoch zunehmend in Legitimationszwang. Die Debatte in Fachzeitschriften ist Ausdruck davon, wie beispielsweise diejenige in der Schweizerischen Ärztezeitung 47/2006: Während die anonym bleibenden Mediziner sich in absurden Rechtfertigungsversuchen verlieren, kritisierten derzeit die Ethikexpertinnen Kathrin Zehnder und Nikola Biller-Andorno aus der Schweiz die Unhaltbarkeit der immer noch gängigen Praxis. Untersuchungen am Institut für Sexualforschung in Hamburg dokumentieren, welches Leid der eingeschlagene Weg auslöst.
Wie üblich in solchen Debatte werden die Betroffenen übergangen. Nachfolgend einige Betrachtungen aus deren Perspektive:
Das Individuum
Im nachfolgend beschriebenen Fall werden zwei Lösungsmöglichkeiten erläutert, die einschneidende operative Eingriffe mit sich bringen. Einem Kind sollen gesunde Ovarien und ein funktionsfähiger Uterus entfernt bzw. ein Penis zu einer Klitoris "reduziert" werden. (Kathrin Zehnder, Schweiz)
Einmal mehr: Ein sechsjähriges Kind wird bevormundet und entmündigt, wird nicht zu seinen Gefühlen und Gedanken befragt. Offizielle Begründung:
Das kindliche Alter des Patienten bedingt, dass der aktuell 6jährige gar nicht recht mitentscheiden kann, dass also Eltern und beteiligte Ärzte für sein späteres Wohl entscheiden müssen (Konzept der Beneficience).
Was zum Beispiel für die Soziologin Kathrin Zehnder selbstverständlich ist, findet in die Überlegungen der Mediziner keinen Eingang: dem Kind wird jegliche Fähigkeit zu verstehen oder zu entscheiden von vornherein abgesprochen. Obwohl die Operationen aufgeschoben werden können, wird arrogant und selbstherrlich über seinen Kopf hinweg entschieden - ein und für allemal. Dazu Kathrin Zehnder:
Die Geschlechtsoperationen stellen keine Notfallmassnahmen dar, sind also aufschiebbar, jedoch nicht rückgängig zu machen. Es scheint auf den ersten Blick unerklärlich, warum überhaupt darüber nachgedacht wird, solche Eingriffe bei einem Fünfjährigen vorzunehmen.
Auch Dr. med. Nikola Biller-Andorno, Professorin für Biomedizinische Ethik an der Universität Zürich, plädiert "angesichts des relativ geringen Schadens/Risikos" dafür, den "schwerwiegende[n] medizinische[n] Eingriff" aufzuschieben:
Dem Kind könnte derzeit durch Hormongaben eine Weiterentwicklung in der Knabenrolle ermöglicht werden, ohne durch eine Operation bereits irreversible Fakten zu schaffen. (...) Insbesondere könnte der "Junge" später selbst entscheiden, wie er seine geschlechtliche Identität gestalten möchte. (Nikola Biller-Adorno)
Doch mit solchen Kinkerlitzchen hielten sich die anonym bleibenden "behandelnden Mediziner" auch im vorliegenden Fall nicht lange auf: Das Kind wird kurzerhand als "krank" bezeichnet. Definitionsmacht der Medizin ... Und Macht wird nicht gerne aus der Hand gegeben – schon gar nicht in Kinderhände:
Der Knabe (sic!) selbst konnte bisher nur bedingt über seine Krankheit orientiert werden. Er weiss, dass er an der gleichen Hormonstörung leidet wie seine Schwester und dass (wie bei ihr bereits geschehen) gelegentlich eine Operation durchgeführt werden muss (Korrektur der Hypospadie, gleichzeitig auch Hysterektomie [?] (im Original) und Ovariektomie oder Korrektur des äusseren Genitales). (Redaktion Ethik, Schweiz) Dafür soll "er" anschliessend "langfristig" kinderpsychiatrisch begleitet werden. Das nennt man dann wohl Arbeitsbeschaffung.
Die Gesellschaft
Ein drittes Geschlecht ist bei uns derzeit nicht "gesellschaftsfähig", wie es die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Urologie zu Störungen der sexuellen Differenzierung (1999) formuliert. (Nikola Biller-Andorno)
Der Entscheid, das Kind als Junge aufwachsen zu lassen, was eine Entfernung der inneren weiblichen Geschlechtsorgane und eine lebenslange Substitution mit männlichen Hormonen zur Folge hat, stützt sich darauf, "dass das Kind als einziger Knabe in seiner Familie eine besondere Stellung als männlicher Nachkomme" hat, "die ihm auch nach Aufklärung der Eltern über die chromosomale und anatomische Situation erhalten" bleiben wird. Die "mögliche Umwandlung des Kindes zu einem Mädchen und damit die Erhaltung der Fortpflanzungsfähigkeit" wird von den Eltern sowieso "eindeutig weniger stark gewichtet". Denn aufgrund des muslimischen Glaubens würde der Knabe "wegen der wichtigen männlichen Rolle in seiner Gesellschaft auch als 'unvollständiger Mann' seine 'Wertigkeit' behalten".
Zudem geht die Herkunft der Eltern aus dem moslemischen Land mit einer sehr schicksalsergebenen Haltung und einer Passivität im Entscheidungsprozess einher, so dass der Entscheid fast vollständig dem behandelnden Arzt übergeben wird. (Redaktion Ethik, Schweiz)
Nicht das betroffene Individuum entscheidet also über seinen eigenen Körper, sondern die kulturbedingte Geschlechterrolle, die Eltern, die Religion. Oder deren selbsternannte Vertretung: die Mediziner. Dazu Ethik-Expertin Nikola Biller-Andorno resignierend:
Gleichwohl erwähnen Leitlinien wie auch medizinische Literatur inzwischen zumeist die Forderung kritischer Stimmen, Geschlechtszuordnungen bis zur Einwilligungsfähigkeit zurückzustellen und Intersex als drittes Geschlecht anzuerkennen, wenn auch der Verweis auf diese Position in der weiteren Argumentation in der Regel folgenlos bleibt. (Nikola Biller-Andorno)
Theorie und Praxis
Theoretisch könnte die Entscheidung der operativen Korrektur vertagt und der Knabe im Alter von etwa 15 Jahren in den Entscheidungsprozess miteinbezogen werden. (Redaktion Ethik, Schweiz)
Praktisch findet am 12. Dezember 2007 in Köln ein Prozess statt, in dem ein Arzt wegen Körperverletzung angeklagt wird. Von einem zwischengeschlechtlichen Menschen, dessen AGS wie im vorliegenden Fall erst spät erkannt wurde, der seiner inneren weiblichen Fortpflanzungsorgane beraubt wurde und an der ihm aufgezwungenen männlichen Rolle bis heute leidet.
Das ist der Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Zwischen Spekulation und Nachfragen. Zwischen Bevormundung und Autonomie.
n e l l a
Intersexuelle Menschen E.V.
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nolderot - 12. Nov, 07:09