1
Okt
2015

i think i sink

In jeder Wohnung, in der ich bisher gelebt habe, gab es ihn. Den Schrank unter der Spüle. Ein Ort, in den Armeen von Putzmitteln und hässlichen Einkaufstüten hineingestopft und vergessen wurden. Ein Ort, an dem man am Tag des Auszuges ein üppiges Sortiment an nicht genutzter Silberpolitur und Topfwolle fand, mit dem sich einige Regal im Drogeriemarkt hätten füllen lassen. Wenn man sich keinen dekorativen Mülleimer leisten konnte, war dort ebenfalls der derangierte, hässliche Plastikeimer stationiert, in den man alles, was es zu entsorgen galt, hinein kippte. So weit, so gut.

Interessanterweise gibt es diesen Ort auch in jedem unserer Köpfe. Behaupte ich jetzt mal. Eine Lokalität, in der sich alles findet, um die hässlichen Begebenheiten des Alltags wegzufegen und aufzupolieren und an dem wir gleichzeitig unseren emotionalen Müll verstauen, dem wir uns heute ganz bestimmt nicht widmen wollen. Ein neuronales Spiegelkabinett, in dem unser sortiertes Ego dem höchst chaotischen Alter Ego mit wirr verzerrter Visage entgegen lacht.

Der Schrank unter der Spüle ist nicht umsonst der einzige ohne Fächer und klar definierter Gebrauchsbestimmung. Man kann dort so ungefähr alles hineinstopfen, was einem morgen dienen könnte und was man heute aber noch nicht, oder vielleicht nie wieder braucht. In meinem Kopf sieht es hier folgendermaßen aus:

Neben all den Fertigkeiten, die ich in mühevollen Jahren des Lernens und des Lebens irgendwann mal zu brauchen gedachte, knautscht sich eine Tüte voll kalter Asche, leeren Flaschen und schlecht gewordenen Lebensentwürfen. Diese Tüte kann ich nach Belieben auswechseln und in die große Tonne unter meinem aktuellen Leben werfen. Den anderen Teil – nämlich das Gelernte – kann ich bisweilen hübsch sortieren und es auf Nimmerwiedersehen unter den Tüten der neuen Erfahrungen verschwinden lassen, von denen ich auch heute nichts wissen möchte. Ein ziemlich ineffiziente Verwendung von Stauraum, sollte man meinen.

Doch wenn man sich tatsächlich an das große Aufräumen wagt und die verklebten Erinnerungslappen zu einem Turm aus Irritationen, Irrtümern und verschütteten Sinnfragen aufeinander stapelt, dann ist die erste, große Frage: Fuck – wo kommt der ganze Kram eigentlich her? Die zweite: Warum zur Hölle habe ich das alles hier hineingestopft? Und die dritte: Wie kann ich verhindern, dass es hier drin in einem halben Jahr wieder so aussieht?

Weitermachen wie bisher ist in jedem Fall eine absolut indiskutable Option. Radikal alles wegzuschmeißen macht nur wirklich Sinn, wenn man nichts mehr von dem vermeintlichen Pröll braucht. Aber das ein oder andere Nützliche wird sich bei Durchsicht schon gefunden haben. Es lohnt sich tatsächlich, den kleinen Spülschrank zu entrümpeln, das gilt für die Küche wie fürs Köpfchen. Erstens findet man schneller, was man wirklich braucht und zweitens muss man nicht mehr mit dem flauen Gefühl durch die Gegend laufen, dass man in Wirklichkeit ein irrer Lumpensammler ist.

3
Feb
2015

russisch roulette

Wer nach wahren Werten, wahren Worten und wahren Freunden sucht, der sucht am Ende des Tages vor allem eines: sich selbst. Und einen Anker in der Welt, um das wirklich Wahre vom offensichtlich Falschen zu unterscheiden.

Bloss ist es so: Für Viele hat die Wahrheit mit der Wahrheit nichts zu tun. Wenn wir nicht hören, was wir wollen. Wenn wir nicht hören, was wir angenommen haben. Wenn wir nicht hören, was uns plausibel erscheint.

Dann brandet in uns der Schlachtruf auf: Stimmt ja gar nicht. Ganz bestimmt nicht. Geht ja gar nicht. So Nicht!

Die Frage, was den nun eigentlich die Wahrheit sei, zählt zu den ältesten Fragen mit einer vergleichsweise kurzen Geschichte. Sie ist ein Ideal, ein Wert, ein theoretisches Konstrukt. Sie steht meist in Relation. Manchmal messbar, selten greifbar und oft aufwendig kostümiert.

Die Wahrheit ist keine Eigenschaft, die in uns wohnt. Sie ist vielmehr der korrekte Schlüssel für einen Lückentext, den jeder von uns in so vielen Situationen auszufüllen hat.

Liebst Du mich noch? Wo warst Du? War ich gut? Wer ist es gewesen? Was habe ich bloss getan? Ist das wirklich wahr?

Die Methoden zum Auffinden der Wahrheit reichen dabei von der höflichen Nachfrage über die Einrichtung der Kontrollinstanzen Beichte, Inquisition und Folter bis zur Etablierung des Lügendetektors und der Gerichtsmedizin. Sie muss sich meist beweisen lassen - so konkret wie möglich.

Ihre Stolpersteine sind gekaufte Zeugen, Manipulation, Verdunklung und die klassische Taktik des Gegenangriffs. Bevor also jemand etwas Wahres bei mir findet, finde ich doch lieber etwas Wahres beim Anderen.

So gelten auch für beinahe jeden Streit um die Wahrheit eher die Regeln des Wettkampfs als die der Systematik. Ein taktisches Spiel, ein ewiger Wettbewerb um die Definitionshoheit über Anstand und das tatsächlich ,Richtige‘.

Der common sense versteht die Wahrheit zunächst als eine erkennbare Übereinstimmung. Wahrheit und Wirklichkeit müssen gewissermaßen strukturgleich sein. Es geht also um die Korrespondenz zwischen einer Aussage mit der Welt der Tatsachen.
Lässt sich meine Aussage widerspruchsfrei in ein Gesamstsytem von 'wahren' Aussagen einordnen?

Und doch: die wenigsten von uns verfügen über einen Kinosaal, in dem chronologisch angeordnete Begebenheiten und Rückblenden systematisch gezeigt und referiert werden können. Was uns bleibt, ist nur die Wahrheit des Augenblicks.

Liebst Du mich? Ja, jetzt gerade liebe ich Dich.

Oft ist die 'ganze Wahrheit' nämlich ein ziemlich effektives Lösungsmittel, das den gesellschaftlichen Kitt zur Gänze zersetzt. Dann vergessen wir auch gerne mal unsere gute Kinderstube. Die eigene Moral und Lebensweisheit formieren sich zu scharfen Motiven, um einen anderen seiner Wahrheit wegen zu bestrafen, zu ächten oder auszugrenzen.

So ist wohl etwas Wahres daran, dass die Wahrheit so häufig in der berühmten Mitte liegt.

Wenn sie die Übereinstimmung zwischen Verstand und Sache ist, dann haben wir alle, mit unserem eigenen Verstand, eine ganz eigene Wahrheit. Wir können uns nur glücklich schätzen, wenn sie sich dem Gegenüber soweit verständlich zeigt, dass wir uns bei ihrem Finden liebend in die Arme fallen.

6
Jan
2015

monsieur accident

Nun sitze ich also hier. Es ist ein Dienstagabend im grau geflockten Januar. Für heute habe ich getan, was ich tun konnte, um dem Tag genau die Bedeutung zu geben, die wirklich jedem Tag gebührt. Das Jahr ist jung und ebenso die Pläne für selbiges. Und schon klopft es an der Tür. Es ist der Zufall, dieses windige Bürschchen, das mich fragt, ob ich dieses Jahr nicht auch ganz ihm - dem Zufall - überlassen möchte.

Hat er mich nun doch wieder gefunden, der werte Monsieur Accident. Und wieder überlege ich: Gibt es einen geheimen Plan, von dem ich nichts weiss?

Wir sind uns schon sehr oft begegnet und ich denke seit langer Zeit über ihn nach. Und wenn ich ihn vergesse, dann kreuzt er meinen Weg so plötzlich wie ein Funkenflug.

Der Zufall - er ist die Kreuzung, an der voneinander unabhängige Kausalketten mit Karacho ineinander rauschen oder leise aneinander vorbeiziehen, ohne sich je zu berühren. Wir neigen dazu, seinem Auftauchen immer wieder eine viel tiefere Bedeutung beizumessen, als ihm zusteht. Dann nämlich, wenn wir ihn für Schicksal halten. Oder ihn mit Karma verwechseln.

Zugegeben; jedesmal, wenn er mich trifft, komme ich nicht umhin zu fragen: Kann denn der liebe Monsieur nicht doch ein märchenhaftes Blinzeln sein, das nur mir gilt? Ist er der Typ, der meine Schlüssel verlegt, damit ich das Taxi zum Flieger verpasse, das Stunden später vom Radar verschwindet? Und ist er aber auch der gehässige alte Mann, der mich genau an dem Tag verpfeift, wo ich aus Verlegenheit gelogen habe?

Der Zufall bindet viel, er bindet Hoffnung, Glück, Verzweiflung und Pech. Die Hoffnung, dass kluge Entscheidungen zu einem erfüllten Leben führen. Und die Verzweiflung, wenn dies trotz aller Vorsicht nicht gelingt. Manchmal ist er hoch willkommen - beim besten Blatt auf der Hand, beim Sechser im Lotto und wenn wir unsere erste, unvergessene Liebe beim Speed-Dating wiederfinden. Und dann gibt es die Art von Zufällen, da möchte man schier ausrasten, so offensichtlich mangelhaft wurde unser persönlicher Lebens-Algorithmus programmiert.

Selbst Freunde finden ist - wie die Liebe - oft nur eine Frage der zufälligen und günstigen Gelegenheit. Natürlich muss man die entscheidenden Schritte der Kontaktaufnahme und -pflege selbst tun. Aber meist ist es zunächst der Zufall, der uns mit ein paar Personen zur selben Zeit am selben Ort vereint. Da muss man schon ein wenig Glück haben, dass da auch gleich etwas Brauchbares dabei ist. Und auch nach näherer Beschau brauchbar bleibt!

Die meisten Zufälle, so lehrt zumindest das Gros der Wissenschaft, sind prinzipiell vorhersagbar. Uns fehlen nur wichtige Informationen, um sie tatsächlich zu ergründen. Nicht umsonst zählen einige ambitionierte Geister in Casinos weiter Karten oder leben in einem derart routinierten Raster, dass sie zumindest ihre eigene Unwissenheit, was den eigenen Tag betrifft, komplett ausschließen können. Bloss nichts dem Zufall überlassen! Und trotzdem hängt das Ergebnis unserer Entscheidungen tagtäglich sehr von eben diesem ab. Sonst könnten wir den freien Willen nicht wirklich als solchen bezeichnen. Wenn wir uns fragen, was uns da und da bloss wieder geritten hat, dann war es Monsignore Coinzidenza, der unserem Willen die Freiheit garantierte, sich mal nach Lust und Laune auszutoben.

Zufall, ich umarme Dich. Komm her, und überrasche mich. Kreuz die Klinge und ich biete Dir - das verspreche ich - die Stirn!

15
Dez
2014

last minute something

,Morgen, morgen, nur nicht heute! Sprechen immer träge Leute‘. So schrieb es Christian Felix Weiße 1766 in seinen ,Lieder für Kinder‘.

Meine Oma wusste es dann später auch immer wieder in großmütterlicher Zeigefinger-Manier anzumerken: ,Was Du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen.‘ Eine Weile habe ich mich diesem Diktat noch in Ehrfurcht vor ihrem vermeintlichen Allwissen gefügt. Aber spätestens mit Erhalt meiner Eintrittskarte in die trotzerfüllten, wankelmütigen Teenager-Jahre war es vorbei mit dem Erledigungs-Gehorsam.

Inzwischen hat sich Trotz und Wankelmut in sozialverträglichem Rahmen wieder eingependelt. Doch es scheint, als würde in mir immer noch ein gewisses Rädchen aus der Reihe der Prioritäten tanzen. Dabei richtet sich mein Widerwillen vor allem gegen die Erledigung von den von mir als überflüssig, langweilig oder unangenehm eingestuften Aufgaben. Doch damit bin ich nicht allein. Die weit verbreitete Verweigerung zur leidigen, aber notwendigen Aufgabenerfüllung hat sogar einen wissenschaftlichen Namen. Es wurde viel darüber geschrieben und das Wort stammt aus der gleichen, hässlichen Lautfamilie wie Protokoll oder Prostatakrebs.

Erledigungsblockade, Handlungsaufschub oder Bummelei werden unter dem Dach Prokrastination zusammengefasst. Manche sind so schwer davon betroffen, dass die eigene Motivation noch nicht mal für den Gang zur Post, einen Rückruf oder das Bezahlen einer Rechnung reicht.

Die dahinter liegenden Gründe sind mannigfaltig. Von den armen Geistern, die schwere Depressionen heimsuchen, einmal abgesehen, sind es meist Langeweile, diverse Ängste oder ein übersteigerter Drang nach Perfektion, die ein Handeln scheinbar unmöglich machen. Ein todsicheres Rezept für ein schlechtes Gewissen.

Daraus speist sich eine unübersichtliche Flut aus Last-Minute-Aktivitäten, in denen man selbst und meist auch der ein oder andere Wegbegleiter als Mitleidender unterzugehen droht. Es könnte alles so einfach sein - ist es aber nicht.

Gerade jetzt, in der Vorweihnachtszeit, lauern die Gefahren für uns Bummler an jeder Ecke. Adventskalender, Geschenke, Weihnachtsfeier-Planungen, die nervtötende Sylvester-Frage. Man möchte sich eigentlich jeden Tag vor lauter Scham am Glühweinstand ertränken, so wenig hat man bis jetzt erst von seiner Liste streichen können.

Mit Blick auf das große Ganze, nämlich das Leben selbst, muss man sich dann aber schon entscheiden, ob man die Dinge nun anpackt oder nicht. Gute Vorsätze erfüllen sich genau so wenig von alleine wie ein Kinderwunsch, den man nun seit Jahren hin- und herschiebt. Ein klärendes Gespräch wird sich im Inhalt mehr und mehr verklären, je länger man darauf wartet, dass ,die Gelegenheit‘ nun günstig ist. Der richtige Moment kommt vielleicht nie, die richtige Stimmung vielleicht auch nicht. Dann kann man es genau so gut auch lustlos, zweifelnd oder furchtsam beginnen, was immer es auch ist - vielleicht zeigt sich die Erleuchtung, die Lust, der Mut ja auch im Tun!


'Jeder Tag hat seine Pflicht! 

Was geschehn ist, ist geschehen,

dies nur kann ich übersehen;

was geschehn kann, weiß ich nicht.

Wer nicht vorgeht, geht zurück,

unsre schnellen Augenblicke

gehn vor sich, nie hinter sich.

Das ist mein, was ich besitze,

diese Stunde, die ich nütze;

die ich hoff, ist die für mich?

Jeder Tag, ist er vergebens,

ist im Buche meines Lebens

Nichts, ein unbeschriebnes Blatt.

Wohl denn! Morgen so wie heute

steh’ darin auf jeder Seite

von mir eine gute Tat!'

Danke, lieber Christian Felix Weiße. Und fröhliche Weihnachten!
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